Jagderlebnis

 

Mein Urgroßvater hieß Friedrich Gille. Er ist irgendwann um 1860 geboren und wuchs in einem armseligen Harzdorf namens Allrode auf. Einer seiner Ururopas war sicher als Hugenotte damals aus Frankreich noch Preußen gekommen, aber davon wußte er nichts. Alle nannten ihn nur Fritz und da es zu dieser Zeit im Ort noch einige mit den gleichen Namen gab, wurde er eben Gillen Fritze benannt. Er war sehr gläubig, vor allem aber war er abergläubisch. Das war kein Wunder; er ging jeden Tag als Holzhacker in den Wald. Und selbst wer heute im Harzwald ist, der kann sich schon mal gruseln oder auch fürchten. Wie gesagt, seit er mit Beil, Axt und Schrotsäge umgehen konnte, ging er in den Wald. harzskiz.gif (18356 Byte) So war es auch nicht verwunderlich, daß die hochherzöglichen Jäger einen waldkundigen Burschen brauchten. Dieser sollte ihnen das erlegte Wild aus dem Revier holen und das nur mit einer kurzen Lagebeschreibung. Nachdem der Hegemeister ihn zwei oder drei Mal beim Wildholen eingewiesen hatte, durfte er von nun an allein mit einem Handwagen das Wildbrett aus den Jagenden holen. Eine Lunge oder ein  Magen war dann der bescheidene Lohn. Aber in einer Holzhauerfamilie war eine Suppe mit einem Spatzen als Einlage ein Festtagsessen. Dementsprechend hoch wurde die Fleischbeilage von der Familie begrüßt. Noch im gleichen Herbst  hatte er schreckliches Erlebnis.

Eine geladene Jagdgesellschaft hatte ein großes Wildbrett erlegt und Gillen Fritze war schon den ganzen Nachmittag mit dem Handwagen unterwegs um die einzelnen Stücke ein zu sammeln und zur Försterei zu bringen. Natürlich war jede Tour so um die 2 Stunden lang, so daß er den vorletzten Gang schon im Dunkeln antreten mußte. An dem gesagten Kantenweg angekommen, zählte er die Fichtenreihen von der zweiten Schneise an ab, ging dann noch die genannten 11 Bäume hangauf, um das Wildschwein (ein Keiler) erst mal aus der Dickung zu schleifen.  Aber da lag kein Wildschwein!

  Was nun? Also, zurück zum Weg, die Baumreihen nochmals gezählt, rein in die Reihe, Bäume gezählt, hier muß es sein. Nichts! Absolut nichts! Plötzlich ein Knacken im Unterholz. Es wird lauter, es kommt näher, dann wieder Ruhe. Lange ist Stille. Nur die Wipfel rauschen noch leise. Aber auch der Wind ist schon schlafen gegangen.

  Mein Großvater denkt noch so "was war denn das!" und geht zum Weg zurück um weiter zu suchen. Auf halbem Weg saust urplötzlich an ihn ein Etwas vorbei wie ein Sturm. Dieses Etwas verfängt sich in dem Strick, mit dem er das erlegte Schwein aus der Dickung ziehen wollte. Bevor er begreift was geschieht, wird er durch den verhedderten Strick zu Boden gerissen und in einem beängstigendem Tempo talwärts geschleift. Er kann auch den Strick nicht so schnell von seinem Handgelenk lösen, so daß die Fahrt steil zur Luppbode hinunter führt.  Er versucht noch, sich an Gebüsch oder Wurzeln fest zu halten, aber zu spät. Sein ziehendes Etwas und er stürzen über eine Felskante einige Meter tief direkt ins Luppbodebett. Um ihn wird es Nacht.

Nach einiger Zeit wird er wieder wach, er friert und ist pitschnaß. Aber er liegt auf etwas weichem Warmen und es riecht nach Blut. Unter Schmerzen rappelt er sich auf. Seine Laterne liegt irgendwo oben am Hang, seine Streichhölzer sind naß, also untersucht er das Ding, auf dem er gelegen hat, mit den Händen. Ja, das ist Haar, das sind Borsten.

Da plötzlich dämmert es ihm: Der Keiler war nur angeschossen, hatte sich wieder aufgerappelt und hatte dann auf seiner Flucht meinen Urgroßvater mitgerissen. Er machte sich auch gleich mit seinen gebrochenen Rippen aus dem Staube, denn waidwundes Wild ist unberechenbar. 

Anderntags fand man das Wildschwein an besagter Stelle. Beim Sturz wird es sich das Rückgrat gebrochen haben und hat so ganz nebenbei meinem Urgroßvater als Polster gedient.

 

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